Die ersten vier Lehren der Großväter

Lehren der Großväter

Weisheit, Liebe, Respekt und Mut

Im ersten Teil dieser Blogreihe habe ich die Seven Grandfather Teachings als ein Wertesystem vorgestellt, das tief in der Weltanschauung der Anishinaabe verwurzelt ist – getragen von Geschichten, gelebter Erfahrung und spiritueller Verbindung zur Natur und zur Gemeinschaft.

Nun möchte ich mit dir gemeinsam einen Schritt weitergehen: hinein in die einzelnen Lehren. Denn so schlicht ihre Begriffe klingen – Weisheit, Liebe, Respekt, Mut – so tief sind sie, wenn man beginnt, sie wirklich zu betrachten. Sie fordern uns heraus. Sie laden ein, uns selbst zu begegnen. Und sie erinnern uns daran, dass es nicht darum geht, perfekt zu sein – sondern achtsam.

Diese vier Werte stehen am Anfang der Reihe – vielleicht, weil sie uns zuerst nach außen führen: in unsere Beziehungen, in unser Handeln, in unsere Haltung der Welt gegenüber. Und doch führen sie uns gleichzeitig nach innen.

Lehren der Großväter

Weisheit – Nibwaakaawin

Weisheit ist nicht dasselbe wie Wissen. Sie ist mehr als Ansammlung von Informationen oder die Fähigkeit, kluge Worte zu finden. Im Sinne der Anishinaabe bedeutet Nibwaakaawin die Fähigkeit, Wissen im Einklang mit allem Leben anzuwenden – zum Wohle der Gemeinschaft, im richtigen Moment, mit Rücksicht auf das Ganze. Es geht um kluge Entscheidungen, die aus Erfahrung, Intuition und einem tiefen Verständnis für Zusammenhänge entstehen.

Weisheit wird in den Seven Grandfather Teachings durch den Biber verkörpert. Dieses Tier nutzt seine natürlichen Gaben mit Bedacht: Mit scharfen Zähnen fällt es Bäume, um Dämme zu bauen, die nicht nur Schutz für ihn selbst, sondern Lebensräume für viele andere Tiere schaffen. Der Biber steht für vorausschauendes Handeln, für kluge Planung und für die Fähigkeit, seine Umgebung so zu gestalten, dass sie allen nützt. So erinnert er uns daran, dass Weisheit oft in der Stille wirkt – und dass wir sie leben, wenn wir mit Weitblick und Verantwortung handeln.

„To cherish knowledge is to know Wisdom.“

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Die symbolische Verbindung mit den Tieren

Dass Tiere wie der Biber in diesen Lehren eine zentrale Rolle spielen, ist kein Zufall. Jede der sieben Lehren ist mit einem Tier verbunden, das die jeweilige Tugend in seinem natürlichen Verhalten verkörpert. So steht zum Beispiel der Wolf für Demut, der Bär für Mut, der Adler für Liebe.

Diese symbolische Verbindung hat viele Ebenen:

  • Sie bringt abstrakte Begriffe wie Respekt oder Weisheit in eine greifbare, körperlich erfahrbare Form.
  • Sie erinnert daran, dass alle Lebewesen wertvoll sind – und dass wir von ihnen lernen können.
  • Und sie knüpft an eine lange indigene Tradition an, in der Tiere nicht als „untergeordnete Wesen“, sondern als Lehrmeister und Verbündete gelten.

Durch die Verbindung mit dem Tierreich wird deutlich: Unsere Handlungen haben Konsequenzen. Wir leben nicht getrennt von der Welt – wir sind Teil von ihr. Tiere zeigen uns, wie Leben im Einklang aussehen kann – wenn wir bereit sind, hinzusehen.

Wer tiefer eintauchen möchte, findet auf der Plattform  wunderbare Einblicke in Sprache, Erzähltradition und die Bedeutung der Seven Grandfather Teachings aus Sicht indigener Sprecher*innen.

Vielleicht ist Weisheit manchmal einfach das stille Wissen: Ich bin Teil eines großen Ganzen. Und mein Handeln zählt.

Liebe – Zaagidiwin

Liebe ist eines der mächtigsten, aber auch meist missverstandenen Konzepte – besonders in westlich geprägten Kulturen, wo sie oft auf Romantik reduziert wird. Zaagidiwin, die Liebe in der Anishinaabe-Lehre, ist viel größer: Sie ist eine Grundhaltung gegenüber allem Leben.

Diese Form der Liebe ist nicht wankelmütig oder besitzergreifend. Sie ist bedingungslos, offen, respektvoll. Sie erkennt den Wert jedes Wesens an – auch wenn es anders ist, schwach erscheint oder uns herausfordert. Liebe in diesem Sinne beginnt nicht bei einem anderen Menschen – sie beginnt bei dir selbst, in der Art, wie du dir begegnest, wie du dich selbst siehst und behandelst.

In den Seven Grandfather Teachings wird die Liebe durch den Adler verkörpert. Kein Tier fliegt höher, kein Blick reicht weiter. Der Adler steht für Klarheit, Weitblick – und für die Verbindung zum Spirituellen. Er sieht die Welt von oben, ohne zu urteilen, und erinnert uns daran, dass wahre Liebe aus einer höheren Perspektive kommt. Sie schaut nicht auf das, was trennt, sondern auf das, was verbindet.

„To know Love is to know peace.“

Diese Form der Liebe ist auch der Klebstoff zwischen allen anderen Teachings. Denn was ist Weisheit ohne Liebe? Oder Mut ohne Liebe? Ohne dieses Herzstück laufen alle anderen Werte Gefahr, hart oder einseitig zu werden.

In meinem Roman Herbstweiden in Arrowwood gibt es eine Szene, in der meine Protagonistin eine schwierige Entscheidung trifft – nicht aus Angst, nicht aus Trotz, sondern aus einem tiefen Gefühl der Verbundenheit. Es ist Liebe, die sie handeln lässt. Eine Liebe, die nicht laut sein muss, aber stark ist. Und heilsam.

Zaagidiwin erinnert uns daran, dass wir immer wieder neu wählen dürfen: für Mitgefühl, für Zuwendung, für das Leben.

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Respekt – Manaaji’idiwin

Respekt ist eine Haltung, die in der Anishinaabe-Welt nicht an Bedingungen geknüpft ist. Manaaji’idiwin bedeutet: Jedes Wesen hat Würde. Jeder Ort, jedes Tier, jeder Mensch verdient Achtung – einfach, weil es oder er existiert. Es geht nicht um Ansehen, sondern um Anerkennung des Lebens selbst.

Diese Lehre steht in enger Verbindung zu einem der Grundprinzipien indigener Weltanschauung: Alles ist miteinander verbunden. Pflanzen, Tiere, Steine, Menschen – sie alle sind Teil eines großen Ganzen. Und wenn man das einmal tief verstanden hat, wird Respekt zur natürlichen Konsequenz.

Der Büffel, das Tier, das in vielen Traditionen für Manaaji’idiwin steht, zeigt genau das: Er gab sich über Jahrhunderte großzügig hin – als Nahrung, Kleidung, Werkzeugquelle – und tat dies ohne Anspruch. Die indigene Bevölkerung ehrte ihn dafür, mit Liedern, Zeremonien, mit Dankbarkeit. Diese Beziehung war keine Ausbeutung, sondern Austausch. Der Büffel lehrt uns Demut und Großzügigkeit – und dass Respekt auch im Geben und im Dienen liegt.

Respekt äußert sich nicht nur in großen Gesten. Oft zeigt er sich im Kleinen:

  • darin, anderen zuzuhören, ohne sie zu unterbrechen,
  • in der Art, wie wir mit der Erde umgehen – ob wir Müll zurücklassen oder Sorgfalt zeigen,
  • in der Haltung, mit der wir Meinungen begegnen, die nicht unsere sind.

„To honor all of the Creation is to have Respect.“

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Mut – Aakode’ewin

Aakode’ewin – Mut – ist vielleicht die sichtbarste der sieben Lehren. Und doch bedeutet Mut in der Anishinaabe-Tradition nicht, laut zu sein oder sich in den Mittelpunkt zu stellen. Mut heißt: das Richtige tun, selbst wenn es schwer ist.

Es ist der Mut, ehrlich zu sein, auch wenn man sich dadurch verletzlich macht. Der Mut, für jemand anderen einzustehen, auch wenn man selbst nichts davon hat. Der Mut, dem eigenen Weg zu folgen, auch wenn er vom gewohnten abweicht.

In den Seven Grandfather Teachings wird Mut durch den Bären symbolisiert. Der Bär steht für Kraft, Schutz und Instinkt – aber auch für das Gleichgewicht zwischen Rückzug und Handlung. Eine Bärenmutter zögert nicht, ihre Jungen zu verteidigen. Aber sie greift nie grundlos an. Ihre Stärke liegt nicht im Angriff, sondern in der Klarheit: Wann es Zeit ist, zu handeln. Und wann, still zu bleiben.

„To face life with courage is to know Bravery.“

Mut ist ein leiser Wert. Er braucht keine Bühne. Oft zeigt er sich in kleinen Momenten:

  • In einem klaren Nein, das aus Selbstachtung kommt.
  • In einem Gespräch, das längst überfällig ist.
  • Im Weitermachen, wenn die Hoffnung nur noch ein Flämmchen ist.

Auf der Ranch habe ich diesen Wert oft gespürt – bei Menschen, die mit Verlust leben, mit Schmerz, mit Veränderung. Sie tragen ihre Stärke nicht nach außen, aber sie ist da. Und sie wirkt.

In meinem Roman Herbstweiden in Arrowwood gibt es eine Szene, in der Mut eine zentrale Rolle spielt: nicht als Heldentat, sondern als Entscheidung, dem Herzen zu folgen – trotz der Angst.

Aakode’ewin erinnert uns daran: Mut ist nicht das Fehlen von Furcht. Es ist die Entscheidung, trotz der Furcht zu handeln.

Eine der bekanntesten Überlieferungen zur Herkunft der Seven Grandfather Teachings stammt von Eddy Benton-Banai, einem Anishinaabe Elder. In seinem Buch The Mishomis Book (1988) beschreibt er, wie die Großväter einem Kind diese Werte für das Leben der Menschen mitgaben – eine Geschichte voller Tiefe, die bis heute weiterwirkt.

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Vier Werte – ein Kreis

Weisheit, Liebe, Respekt und Mut – vier Lehren, die für sich stehen können, aber in ihrer Kraft erst im Zusammenspiel wirklich leuchten.

Weisheit ohne Liebe kann kalt wirken. Liebe ohne Respekt wird schnell vereinnahmend. Respekt ohne Mut bleibt stumm. Und Mut ohne Weisheit läuft Gefahr, blind zu werden. Diese vier Werte bedingen und ergänzen einander, wie Himmelsrichtungen in einem Medizinrad. Sie bieten keine schnellen Antworten – aber sie laden ein, genauer hinzuschauen, langsamer zu werden, bewusster zu leben.

Wenn wir sie im Alltag ernst nehmen – in Gesprächen, in Entscheidungen, im Umgang mit anderen – verändern sie etwas. Nicht alles auf einmal. Aber vielleicht den nächsten Moment.

Viele Schulen, kulturelle Programme und Jugendinitiativen in First Nations-Gemeinschaften arbeiten heute aktiv mit den Seven Grandfather Teachings – nicht nur als Wertevermittlung, sondern als Weg zur Heilung, Identitätsstärkung und Versöhnung. Die Seite des Anishinabek Nation Education Institute bietet Einblicke in diese lebendige Praxis.

Abschluss

Vielleicht gibt es einen dieser vier Werte, der gerade in deinem Leben besonders präsent ist.

Welche dieser Lehren begleitet dich zurzeit – oder stellt dich vor eine Herausforderung?

  • Ist es Weisheit, die dir helfen soll, einen Überblick zu gewinnen?
  • Liebe, die du geben oder annehmen möchtest?
  • Respekt – für dich selbst oder für jemanden, mit dem du gerade ringst?
  • Oder Mut, den du brauchst, um einen Schritt zu gehen?

Ich lade dich ein, einen Moment innezuhalten. Vielleicht magst du deine Gedanken aufschreiben. Oder mit mir teilen – in den Kommentaren oder per Nachricht. Ich lese sehr gerne, welche Gedanken dich beim Lesen dieses Artikels begleitet haben.

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Ausblick auf Teil 3

Im nächsten und letzten Teil dieser Reihe widmen wir uns den verbleibenden drei Teachings: Ehrlichkeit (Gwayakwaadiziwin), Demut (Dabaadendiziwin) und Wahrheit (Debwewin).

Diese drei Werte richten den Blick stärker nach innen: Sie fordern uns heraus, aufrichtig mit uns selbst zu sein, unseren Platz im großen Ganzen zu erkennen – und unser Leben im Einklang mit unserer inneren Wahrheit zu führen.

Ich freue mich, wenn du wieder dabei bist.

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